Diplom Theologin Eva-Maria Schmitz

Zwischen Wildgänsen und Heiligem Geist


Wilgänse in NeuendeichWenn die Wildgänse über unser Haus fliegen, werde ich ganz unruhig. Ihr durchdringender Ruf lockt mich nach draußen, um ihren Flug zu beobachten. Die typische Flugformation fasziniert mich immer wieder aufs neue. Die erste Gans hat den größten Windwiderstand, die anderen fliegen im Windschatten hinterher. Und sie wechseln die Position, die erste darf nach getaner Arbeit in den Windschatten. Nahezu ständig ertönt ihr Schrei. Sie verständigen sich im Flug untereinander.
Erst seit drei Jahren wohne ich in dem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein, wo ich die Wildgänse beobachten kann. Vorher lebte ich in Hamburg und habe Wildgänse nur im Urlaub gesehen. Wenn ich sie jetzt höre und sehe, habe ich immer noch das Gefühl von Urlaub, Freiheit und Sehnsucht nach Ferne.
Jetzt, wo ich in der Marsch lebe, scheint diese Sehnsucht oft auch schon erfüllt. Die Felder, die Deiche, die oftmals tief hängenden Wolken vermitteln mir diese Weite, das Gefühl, aufatmen zu können, Platz zu haben. Wenn ich beim Abwasch aus dem Fenster sehe, schweift mein Blick oft über die Landschaft. Es sei denn, ich bin völlig in Anspruch genommen von dem, was noch zu tun ist. Dann kontrolliere ich nur kurz blickend, ohne Weite, wieviel Unkraut im Garten wächst und ob es nicht mal wieder nötig wäre, den gepflanzten Blumen Raum zu verschaffen. Dann gilt es, zu planen. Was mache ich wann? Bei der Gartenarbeit freue ich mich, wenn die Wildgänse mich unterbrechen. Am Schreibtisch sind es mehr theologische Fragen, die mich beschäftigen und die Unterbrechung ist meist mein Sohn, das Telefon oder ich brauche Ablenkung, weil die Geistesblitze ausbleiben. Manchmal geht es aber auch leicht und flüssig, das Nachdenken über Gott und Heiligen Geist. Zwischen Garten, Haushalt und Schreibtisch, zwischen Natur, Weite und Theologie, zwischen Wildgänsen und Heiligem Geist bewege ich mich. Beides fasziniert mich zur Zeit.

Vor einiger Zeit las ich einen Aufsatz über den Heiligen Geist von Mary Grey unter der Überschrift: "Wohin fliegt die Wildgans?" (in: E.Moltmann-Wendel ,hg., Die Weiblichkeit des Heiligen Geistes, Gütersloh 1995, S.137 ff). Sie schreibt, daß die Wildgans ein altes keltisches Symbol für den Heiligen Geist ist. Ich war sofort begeistert. Mit der Taube konnte ich mich nie so recht anfreunden.Seitdem sich die Tauben in der Enge der Städte den Raum mit den Menschen teilen, habe ich sie in der Stadt eher als lästig erfahren.Beim Radfahren sitzen sie im Weg, entfernen sich erst in letzter Sekunde und überall hinterlassen sie ihren Kot.
Die Taube ist allerdings biblisch belegt. Bei der Taufe Jesu wird ausdrücklich geschildert, daß der Geist sichtbar in Gestalt einer Taube auf Jesus herabkam. Aber trotzdem, die Taube weckt keinerlei Sehnsucht in mir, erscheint mir auch lange nicht so beeindruckend wie die Wildgans. Aber es ist unsinnig das eine Symbol gegen das andere auszuspielen. Symbole übersteigen den Bereich des rational Fassbaren, sind also mit Gefühl verbunden. Mir scheint, es ist vor allem wichtig, die Vielfalt von möglichen Symbolen wieder zu gewinnen. Denn wenn nur noch Verkehrszeichen zu den Symbolen zählen, die jede und jeder kennt, ist mir das zu wenig.

Wilgänse in NeuendeichDer Heilige Geist war für mich lange Zeit eine eher blasse Erscheinung. Mit Vater und Sohn konnte ich konkretere Vorstellungen verbinden. Erst mit der "Entdeckung" der biblischen ruach wurde ich aufmerksamer. Ruach ist ein hebräisches Wort. Es ist der Geist Gottes, der bei der Schöpfung über den Wassern schwebte. Eigentlich ist das Wort schweben auch mit flattern zu übersetzen, womit wir wieder bei den Vögeln wären. Übersetzungen sind immer schwierig, da gilt es, den richtigen Begriff für das ursprünglich Gemeinte zu finden. Für mich ist die Vielfalt der möglichen Bedeutungen bei ruach aber mehr faszinierend, denn verwirrend, da es mir Zusammenhänge deutlich macht: Ruach ist zunächst Wind, Sturm, Hauch.
In dem Dorf hinterm Deich, in dem ich jetzt lebe, stürmt es gerade in diesem Jahr recht häufig. Die Macht und die Kraft des Windes ist richtig spürbar. Wenn ich spazieren gehe, muß ich mich gegen den Sturm stemmen. Rückwärts kann ich mich  regelrecht in den Wind hineinsetzen. Das Wasser der Elbe wird bei steifem Nordwestwind aufgestaut und steigt. Manchmal ist es auch bedrohlich.

Aber auch der Hauch ist ruach. Nicht nur macht- und kraftvoll, auch leise, kaum wahrnehmbar ist Gottes Geist.

Und ruach ist auch Atem, Lebenskraft. Hier wird der Bedeutungszusammenhang für mich besonders klar. Atem ist auch Wind, ich kann pusten, kann mit meiner Luft willentlich etwas in Bewegung versetzen, z.B. ein Windrad. Atem ist Lebenskraft. Wer nicht atmet, zumindest über längere Zeit, lebt nicht. Wenn ich mich anstrenge, wird mein Atem heftiger, verbrauche ich  mehr Energie bzw. Lebenskraft. Wenn ich erschrecke oder gespannt bin, halte ich den Atem an. Wer kennt nicht das befreite Aufatmen, wenn die Spannung sich löst, wenn wieder Raum und Weite da ist beim Luft holen.
Dieses befreite Aufatmen, das ist ruach. Ruach ist immer etwas Dynamisches. Es ist eine Kraft, die sich bewegt und die etwas in Bewegung setzt.

Wilgänse in NeuendeichIn Psalm 104 wird der Zusammenhang von ruach Gottes und der ruach des Menschen besonders deutlich. Luther hat ruach mit Odem übersetzt. Das angeredete "du" ist Gott, mit "sie" sind die Menschen gemeint:
"Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie,
nimmst du weg ihren Odem, so vergehen sie
und werden wie der Staub.
Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen,
und du machst neu die Gestalt der Erde." (Ps 104,29.30)
Odem, ruach, ist die Schöpferkraft. Ohne sie ist nichts, nur Staub. Wird aber die Schöpferkraft, ruach ausgesendet, so wird alles mit Lebendigkeit erfüllt, wird alles erneuert.
Bei der Erschaffung der Menschen hauchte Gott ihnen den Odem des Lebens in die Nase.

Ruach ist nicht zu definieren, nicht zu packen. Aber ihr Wirken läßt sich beschreiben und nachvollziehen. Sie vereint, was getrennt war. Sie schafft Ganzheit zwischen Gott und Schöpfung, zwischen Schöpfer und Geschöpf.

Von dem alttestamentlichen Begriff ruach zum neutestamentlichen Begriff  Heiliger Geist ist es ein weiter Weg. Und zwischen dem Neuen Testament und heute liegen noch einmal 2000 Jahre Kirchengeschichte. Wie oft wurde versucht, Gottes Geist zu einer Hausgans zu machen, die liebevoll gemästet und genährt wird, aber die raumnehmenden, kraftvollen, Sehnsucht weckenden Eigenschaften der Wildgans nicht einmal mehr ahnen läßt.

Die Lehre vom Heiligen Geist heißt in der Theologie Pneumatologie, die Lehre vom Pneuma.
Dieser neutestamentliche Begriff für Geist Gottes hat mich nie so stark beeindruckt. Bei Pneuma bin ich schnell bei französisch pneu, Fahrradreifen. Eigentlich eine verrückte Assoziation. Aber jede Radfahrerin weiß, wie wichtig es ist, Luft in den Reifen zu haben. Luft, Wind, Atem ...  Ohne Geist, Wind, Lebenskraft ist keine Fortbewegung möglich.
Mit Rückenwind fahre ich schneller und leichter. Wind läßt meinen Drachen steigen, Wind ist Energiequelle.
Vorbildlich im Umgang mit dieser Energie sind die Wildgänse, die ihren Flug so einrichten, daß sie energiesparend abwechselnd im Windschatten fliegen. Sie nutzen den Wind für ihre Fortbewegung, wissen aber auch bei Gegenwind gut mit dieser Energie umzugehen.
Auch mir hilft es, wenn ich nicht permanent an erster Stelle stehen muß. Das schont meine Kräfte, schafft mir Raum für andere Aktivitäten. Nur wenn wir in Beziehung zueinander treten, uns verständigen, ist dieser Tausch möglich. Die Charismen, die Geistgaben, von denen Paulus berichtet, sind unterschiedlich verteilt. Aber jede und jeder hat ihr Charisma, ihre persönliche Begabung. "In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller", schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth. (1 Kor 12,7) Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wilgänse in NeuendeichZwischen dem alttestamentlichen Begriff ruach und dem neutestamentlichen pneuma, bzw. dem Heiligen Geist, sind aber auch Berührungen auffindbar.
Zum Beispiel Pfingsten, in der Geburtsstunde der Kirche, ist es der Heilige Geist, der entscheidend ist. Lukas berichtet davon in seiner Apostelgeschichte (Apg 2,16-21) In der Pfingstpredigt des Paulus wird der Prophet Joel zitiert. Bei Joel steht ruach, bei Lukas pneuma bzw. Heiliger Geist. Die Wirkung des Heiligen Geistes und hier ist es gleichzeitig auch ruach, wird in dreifacher Weise beschrieben:
"Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein,
eure Alten werden Träume haben,
und eure jungen Männer haben Visionen."  (Joel 3,1)
Dies wird für die letzten Tage prophezeit. Eine schöne Zukunftsvision, finde ich. Söhne und Töchter werden gleichermaßen prophetisch reden. Vor allem die Alten, die Träume haben, gefallen mir. Keine resignativen Senioren, sondern alte Menschen, die noch Träume haben. Alle Menschen werden Propheten, Söhne und Töchter, Junge und Alte. Propheten sind  Menschen, die aus der Gegenwart heraus die Zukunft in den Blick nehmen. Gottes Geist, sei es Heiliger Geist oder ruach, schafft Raum, läßt Offenheit für Zukunft entstehen.

Unsere Glaubensmütter und Glaubensväter haben uns in der Bibel die highlights ihres Glaubenslebens hinterlassen. Das Alltagsgeschehen wird als bekannt vorausgesetzt So wie wir es heute auch noch handhaben. Auch wir erzählen uns das, was uns als besonders auffällt, was den Alltag sprengt. Und dennoch, ich gehe davon aus, daß Gottes Geist auch in diesem banalen Alltag wirkt und nicht nur in den highlights. Genau in den Banalitäten des Alltags kann ein anderer Wind wehen, kann etwas von der Kraft und Energie des Geistes Gottes durchwehen.
Ich meine damit nicht aufgesetzte, pfingstlerische Begeisterung oder die moderne Auffassung, positiv zu denken. Wo nichts ist, was mich begeistert, muß ich auch keine Begeisterung heucheln. Wenn Schlimmes passiert, kann ich nicht einfach positiv denkend darüber hinweggehen. Der Glaube enthebt uns nicht dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen. Die Aussage, daß der Glaube trägt, meint nicht, daß gläubige Menschen  ständig über Wasser gehen.
Auch mein Alltag ist natürlich viel Routine. Wenn morgens der Wecker klingelt, bin ich als typischer Morgenmuffel eher lahm und leblos. Mein Sohn muß zur Schule, mein Mann zur Arbeit und für mich bleibt der Haushalt oder der nächste Termin. Abwasch, bügeln, Staubsaugen oder Veranstaltungen planen, besprechen, durchführen. Aber - mittendrin blitzt manchmal etwas auf oder es wächst etwas heran, was mir deutlich machen kann, wie Geist, ruach, Lebenskraft wirkt.

Wilgänse in NeuendeichMittendrin zum Beispiel klingelt das Telefon, es entwickelt sich ein gutes Gespräch. Mit einer Freundin  kann ich manchmal herzhaft lachen über ganz alltägliche Begebenheiten. Sie bekommen ein anderes Gesicht, eine andere Perspektive tut sich auf und schon kann ich alles entspannter und fröhlicher betrachten.
Oder am Schreibtisch - die zündende Idee ist plötzlich da und ich kann munter weiterarbeiten.
Oder bei der Gartenarbeit - im Frühjahr scheint alles plötzlich zu knospen und zu blühen. Es begeistert mich immer wieder neu, wie zum Beispiel die Osterglocken sich kraftvoll ihren Weg bahnen. Diese Blumen können einfach die Erde hochheben, sie tragen, bis sie schließlich abfällt. Hier in der Marsch ist der Boden entweder matschig und klebrig oder trocken und hart Welche Energie, welche Lebenskraft wird da deutlich, wenn die verkrustete Erde auf den grünen Spitzen liegt.
Der Glaube an die unbändige Energie des Heiligen Geistes, die auch in mir ist, die ich atme, trägt mich. Gottes Geist schafft Raum, läßt Offenheit entstehen für Zukunft, wirkt in Beziehungen. Mein Symbol dafür sind die Wildgänse.

 

Dieser Artikel wurde veröffentlicht (ohne Fotos) in: "Die Blume in mir", herausgegeben von Ute Thielke (s. Aufsätze)

Ich bin für Anregungen und Kritik jederzeit offen, treten sie einfach mit mir in Kontakt.

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